„Die Wendeerfahrung, die mich am meisten geprägt hat, ist die berufliche Unsicherheit, in die es meine Eltern mit Mitte 30 stürzte. Sie schienen nicht auf den neuen Arbeitsmarkt zu passen, nichts mehr wert zu sein. Das blieb bei mir hängen. Ich zog den Schluss daraus, mir selbst nach der Schule möglichst schnell eine berufliche Karriere aufzubauen und so Sicherheit zu schaffen. Ich glaube, angesichts der Erfahrung meiner Eltern bin ich eigenverantwortlicher und zielstrebiger geworden.“
„Ich war zu jung, als dass die Wende sofort einen direkten Einfluss auf mich gehabt hätte. Meine Freundinnen, die ein paar Jahre älter sind, haben das ganz anders erlebt – sie waren zur Zeit des Mauerfalls schon im Beruf oder in der Ausbildung. Für sie war der Bruch viel härter, weil vieles ins Wanken geriet, weil sie noch einmal ganz neu überlegen mussten, was sie eigentlich tun wollen und können. Ich war 12, ich musste mich darum noch nicht kümmern.“
„Für mich gehört Scheitern zum Leben. Ich finde es wichtig, in jeder Situation zu schauen, was man aus ihr machen kann. Eine gedankliche Schleife zu drehen und sich selbst zu fragen: Bin ich hier noch an der richtigen Stelle? Das eigene Handeln aus der Reflektion ableiten. Ich kann gut mit Veränderungen umgehen, ich empfinde sie als Motor und Inspiration.“
„Es erfüllt mich, gemeinsam mit anderen engagierten Frauen unser Umfeld und das unserer Familien zu gestalten. Wir haben einen alten Gutshof gepachtet, als Ort der Begegnung, als einen Treffpunkt für alle. Das war vor sechs Jahren, inzwischen wirken wir mit unserem Verein heimatBEWEGEN aber weit über das Gut hinaus, ins Quartier hinein, in die Stadt und die Region. Wir haben gezeigt, dass wir etwas können. Gerade ist die Kommune wegen eines Nachnutzungskonzepts für die seit 2024 geschlossene Lungenklinik auf uns zugekommen. Wir kennen die Belange der Bevölkerung und können solche Prozesse moderieren. Das ist für mich Transformationsgestaltung.“
„heimatBEWEGEN ist ein Neulandgewinner*innen-Projekt. Und als solches begegnen wir Menschen mit Wertschätzung. Wir möchten ihnen das Gefühl geben, gebraucht zu werden. Jeder kann bei den Transformationsaufgaben, vor denen wir stehen, eine Aufgabe übernehmen. Dass uns diese Haltung so wichtig ist, hängt vielleicht auch mit unserer Wendeerfahrung zusammen.“
„Natürlich ist vieles schief gelaufen bei der deutschen Wiedervereinigung. Aber aus meiner Sicht nützt die Kritik aus dem Rückblick nicht viel. Das war ein komplexer Prozess, wer hätte ihn in Gänze überblicken können? Aber wir können aus der Vergangenheit lernen, für das Hier und Jetzt.“
Anneke Richter ist 1977 in Ballenstedt geboren, einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Dort lebt sie auch heute wieder, gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Als die Mauer fiel, war Anneke 12 Jahre alt. Ihr Leben vor dem Mauerfall beschreibt sie als geborgen und strukturiert,sie war aktiv als Geräteturnerin und Turnieranglerin. Annekes Vater hatte einen guten Job im örtlichen Gummiwerk, in der DDR ein bekannter Betrieb. Die Mutter arbeitete, in einer Produk- tionsgemeinschaft organisiert, als Kosmetikerin. Die Wende traf beide Eltern beruflich hart. Die Mutter musste ins finanzielle Risiko gehen und sich selbstständig machen. „Ein echter Kraftakt“, sagt Anneke. Ihr Vater hat seinen Job mit dem Besitzerwechsel des Werks verloren, wechselte dann zu einem westdeutschen Möbelhaus und war nur noch am Wochenende zuhause. Der Todvon Annekes Schwester bei einem Autounfall – sie pendelte zu ihrer Lehrstelle im hessischen Kronberg, der Partnerstadt Ballenstedts – brachte die Eltern auseinander. Der Vater wurde psychisch krank und landete in der Langzeitarbeitslosigkeit. Anneke selbst machte nach dem Abitur eine Lehre als Bauzeichnerin, dann studierte sie in Wernigerode Medieninformatik. 2003 ging sie mit ihrem heutigen Mann auf Weltreise, danach kamen berufliche Stationen in Hamburg und Erlangen. 2006 startete Anneke als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Medienzentrum der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, später leitete sie das Team. In Ballenstedt gründete Anneke 2017 mit einer Freundin den Verein heimatBEWEGEN, der sich für die Entwicklung der Stadt sowie der Region einsetzt.